"Verschwindende Minderheit: Mapuche auf dem Land"

"Verschwindende Minderheit: Mapuche auf dem Land"
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    "Verschwindende Minderheit: Mapuche auf dem Land"
Aktion ADVENIAT 2007-11-07
Leitthema Gerechtigkeit

Ist Deutschland noch ein gerechtes Land? Nichts fürchten die Menschen so sehr wie die wachsende Ungleichheit. Und das zu Recht: Arm und Reich driften schneller auseinander als in allen anderen westlichen Industrienationen. Um die Folgen dieser Entwicklung abzuschätzen, lohnt ein Blick nach Lateinamerika. In keinem anderen Kontinent sind Vermögen und Zukunftschancen so ungerecht verteilt, stehen sich Arm und Reich derart unvermittelt gegenüber. Droht uns die Lateinamerikanisierung?

„Gerechtigkeit, jetzt und für alle Zeiten" lautet in diesem Jahr das Motto der ADVENIAT-Weihnachtsaktion. Das katholische Lateinamerika-Hilfswerk rückt dabei eine Bevölkerungsgruppe in den Mittelpunkt, die wie keine zweite Opfer von Ungerechtigkeit wurde: die Indianer der Andenregion. Auch wenn ein Ende der Jahrhunderte währenden Diskriminierung nicht in Sicht ist: anhand seiner Projekte und durch das Zeugnis seiner Partner zeigt ADVENIAT, wie Menschen sich eigenständig aus Ungerechtigkeit befreien und aktiv für Chancengleichheit eintreten. Die Kampagne will engagierte Menschen in Deutschland dazu ermutigen, sich gemeinsam mit den Partnern in Lateinamerika für eine Zukunft in Würde einzusetzen.

Spendenkonto 345, BLZ 360 602 95 (Bank im Bistum Essen eG)



Eine Reportage von Verena Hanf


Chile
Verschwindende Minderheit: Mapuche auf dem Land

Nur noch knapp zwanzig Prozent der chilenischen Mapuche leben auf dem Land. Diese Minderheit liebt das Leben in und mit der Natur, doch die Einkommensmöglichkeiten sind begrenzt. Gerade kinderreichen Familien fehlt es an Ackerland und Ausweitungsmöglichkeiten. Viele Eltern – hauptsächlich Landwirte – hegen zwiespältige Gefühle: einerseits wünschen sie, dass ihre Kinder auf dem Land und ihren Wurzeln treu bleiben, andererseits möchten sie ihnen eine gute Ausbildung und dadurch einen sozialen Aufstieg ermöglichen.

Pedro Maricán Maricán ist Mapuche, ein Mensch der Erde. In der Sprache seines Volkes bedeutet Mapu Erde und Che Mensch. Pedro liebt sein Stück Erde in der Mapuche-Gemeinschaft Quinque im Süden Chiles: die Weide voller Löwenzahn, auf der seine Kühe grasen, die Felder, auf denen Getreide und Mais wachsen, den Garten vor dem gelb gestrichenen Holzhaus, in dem schon seine Eltern und Großeltern lebten. Pedro ist gerne Mensch der Erde, mit Umsicht kümmert er sich um seine sechs Hektar Land und um sein Vieh. Es stimmt den 56-Jährigen ruhig und dankbar, wenn er seinen Blick schweifen lässt über die Natur, die ihn umgibt, wenn der Wind durch die Eukalyptusbäume säuselt und die Abendsonne den Himmel orangerot färbt.

Doch Pedro Maricán ist nicht nur Landwirt. Wie schon vor ihm sein Vater und sein Großvater, so setzt auch er sich für die Belange seines Volkes, die Mapuche ein. Als langjähriger Mitarbeiter der von Adveniat unterstützten Pastoral Mapuche der Diözese Villarrica und Leiter seiner indigenen Gemeinde Quinque trifft er sich regelmäßig mit weiteren fünf Mapuche-Leitern der 22.000-Seelen-Gemeinde Pitrufquén. Gemeinsam besprechen sie die Anliegen ihrer Gemeinschaften, organisieren Fortbildungen und Mapuche-Feste, die Identität und Kultur ihres Volkes stärken sollen. Aber hauptsächlich widmen sie sich ihrer politischen Arbeit und Forderungen. Ihre Ziele sind eigentlich seit Jahren klar: Sie wollen ihre Rechte geltend machen, die zu lange missachtet wurden, und sie wollen die Rechte erhalten, die ihnen ihrer Meinung nach zustehen: Recht auf Anerkennung als Volk und kulturelle Autonomie, Recht auf Land, Recht auf Bildung und Chancengleichheit sowie auf eine bessere Gesundheitsfürsorge und Rente.

Enteignungen und Vertreibungen

Das Recht auf Land steht dabei ganz oben: allein in Pedros indigener Gemeinde sind 30 der 80 Familien landlos. Jungen Erwachsenen, die ihr Elternhaus verlassen und auf eigenen Beinen stehen möchten, mangelt es an Ackerland. Nicht nur in Quinque, auch in den anderen Mapuche-Ortschaften herrscht Landknappheit. Die Mapuche Chiles leben heute auf kleinstem Raum vor allem in der armen und wenig geförderten VIII. und IX. Region des Landes. Von ihren ursprünglich 30 Millionen Hektar Land sind ihnen etwa 250.000 Hektar geblieben. Zwar gelang es den Mapuche, sich im Gegensatz zu den meisten anderen indigenen Völkern Lateinamerikas der spanischen Kolonisation zu widersetzen und lange ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Doch nach ihrer gewaltsamen Angliederung an Chile im Jahr 1881 wurden sie enteignet und ihr Land den Einwanderern – darunter viele deutsche Lutheraner – übergeben. Im Zuge der Enteignungen und Vertreibungen, die sich unter der Pinochet-Diktatur fortsetzten, wanderten immer mehr Mapuche in die Städte aus.

Dort wuchsen unterdessen die armen, von Indígenas bewohnten Randbezirke. Die meist schlecht ausgebildeten Mapuche fanden Arbeit vor allem als Haushaltshilfen und in den Bäckereien – wo sie kostenlos unterkommen konnten, um frühmorgens gleich zur Stelle zu sein. Bis heute sind etwa zwei Drittel der Bäckerangestellten in Santiago Mapuche.

Integration oder Abgrenzung

Mit dem Ende des Pinochet-Regimes verbesserte sich die Situation der Mapuche nur teilweise – immerhin wurden ihnen unter der Regierung Patricio Aylwins 250.000 Hektar Land zugesprochen. Doch in grundlegenden Fragen verschlechterte sich ihre Lage. Die so genannte „Ley Indígena“ aus dem Jahr 1993 spricht nur von „Bevölkerung“, nicht aber vom „Volk“ der Mapuche, völkerrechtlich ein erheblicher Unterschied. Großprojekte wie der Bau von Staudämmen, die Ausbeutung von Primärwäldern und der Ausbau des Straßennetzes sowie Umweltverschmutzungen durch Fabriken bedrohen das Lebensumfeld der Mapuche zusätzlich. Demonstrationen von Mapuche und Umweltaktivisten unterband die Regierung Ende der 90er Jahre mit zuweilen drastischen Mitteln. Demonstranten wurden als „Terroristen“ bezeichnet. Verhaftungen folgten, Mapuche berichteten, sie seien von Sicherheitskräften gefoltert worden. Nur eine Splittergruppe reagierte ebenfalls mit Gewalt.

Die Mehrheit der Mapuche zieht es bis heute vor, mit friedlichen Mitteln Schutz und Rechte einzufordern. Allerdings gibt es auch unter ihnen viele Spannungen und unterschiedliche Zielsetzungen: Während eine kleinere Gruppe sich ganz klar von „den Chilenen“ abgrenzen will als autonomes und unabhängiges Volk, möchten viele gemäßigte Indígena-Initiativen eine Integration – aber ohne Assimilierungsdruck – erreichen und eine Verbesserung der Lebenssituation der schätzungsweise zehn Prozent Ureinwohner in Chile.

Forderung nach Chancengleichheit

Neben der Landfrage setzen sich Pedro Maricán und seine Mitstreiter daher auch entschieden für das Recht auf Bildung ein, denn noch immer leiden Mapuche-Kinder unter mangelnder Chancengleichheit. Die Ureinwohner gehören zu den Ärmsten in Chile, und gute Ausbildungen sind teuer. „Mapuche-Kinder brauchen mehr Stipendien“, sagt Pedro Maricán. Doch nicht nur fehlende Mittel behindern die Chancengleichheit. Auch die noch immer starke Diskriminierung gegenüber den Ureinwohnern macht nicht Halt vor den Klassenzimmern.

Aus Sorge, ihre Kinder könnten zu sehr unter ihrer Herkunft leiden, verzichten bis heute noch die meisten Mapuche-Eltern darauf, ihren Kindern Mapuche-Namen zu geben. Dem zweisprachigen Unterricht, der seit einigen Jahren in manchen Landschulen angeboten wird, stehen sie skeptisch gegenüber. Auch wenn sie es bedauern, dass das Mapudungun verloren geht, ziehen sie es vor, dass ihre Kinder einwandfrei Spanisch sprechen und damit ihre Chancen auf dem chilenischen Arbeitsmarkt erhöhen. Doch selbst die Eltern, die es gerne sähen, dass ihre Kinder auch Mapudungun sprechen, stoßen auf Widerstand – und zwar bei den eigenen Sprösslingen.

Auch die Kinder Pedros sprechen nur einige Worte Mapundungun. Doch wie ihr Vater lieben der 13-jährige Mauricio und der 17-jährige Felipe das Leben auf dem Land. Gerne fahren sie am Wochenende nach Hause und helfen den Eltern bei der Arbeit auf dem Feld. Unter der Woche besuchen die beiden eine öffentliche Schule in der nächsten größeren Stadt, Temuco, und übernachten dort im Internat. Zum täglichen Pendeln ist es zu weit und zu teuer.

Pedro Maricán und seine Frau Maria Eliana haben bewusst nur zwei Kinder bekommen – im Gegensatz zu den überwiegend kinderreichen Mapuche-Familien. „Wir wollten sichergehen, dass wir den Kindern später eine Ausbildung finanzieren können“, sagt Pedro. Sein Traum ist es, dass die Söhne beides vereinbaren können: einerseits der Erde, ihrer Herkunft und Kultur treu zu bleiben und andererseits eine gute Ausbildung zu absolvieren, die ihnen ein besseres Einkommen sichert als die Landarbeit. „Mein ältester Sohn ist sehr gut in der Schule“, sagt er. Felipe träume davon, Ingenieur zu werden. Doch das Studium ist teuer, Stipendien rar. Felipe lernt umso fleißiger, der Vater legt Monat für Monat ein wenig Geld zurück. „Wir werden es schon schaffen“, sagt er. Und lässt seinen Blick über die Felder bis zum Horizont schweifen.


Fotos: Jürgen Escher
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